Entscheidungsprozesse in Gruppen, Teams oder politischen Institutionen fallen häufig nach dem Mehrheitsprinzip: Zwischen verschiedenen Lösungen wird die ausgewählt, die die meiste Zustimmung erzielt. Dabei gibt es naturgemäß „Gewinner“ und „Verlierer“: Eine mehr oder weniger große Gruppe ordnet sich mehr oder weniger zähneknirschend der Mehrheitsmeinung unter. Ein überzeugtes Mittragen der gefundenen Lösung ist dadurch nicht immer gewährleistet.
Um diesem Dilemma zu entgehen, hat eine österreichische Autorengruppe aus Computerfachleuten und einem Industriekaufmann, die alle drei als Unternehmensberater tätig sind, die Methode des „Systemischen Konsensierens“ entwickelt. (G. Paulus, S. Schrotta, E. Visotschnig: Systemisches Konsensieren – Der Schlüssel zum gemeinsamen Erfolg, 3. überarbeitete Auflage August 2013)
Das Konzept ist relativ einfach: Statt nach Pro-Stimmen für einzelne Lösungsvorschläge zu fragen, werden Bedenken, Kritik oder Widerstand zu einzelnen Vorschlägen ermittelt. Teilnehmende an den Entscheidungsprozessen bekommen eine festgelegte Anzahl von „Widerstandspunkten“. Zu jeder Alternative werden in einer Abstimmung die Widerstandswerte der einzelnen Gruppenmitglieder addiert, der Lösungsvorschlag, der die wenigsten Widerstandspunkte erhält, wird angenommen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass eine Entscheidung getroffen wird, die die größtmögliche Akzeptanz bei allen Beteiligten erreicht. Als „systemisch“ in diesem Konzept wird angesehen, „dass diese Entscheidungsmethode systembedingt bei allen Beteiligten ein konstruktives Verhalten hervorruft (…). Systemisches Konsensieren führt selbsttätig zur größtmöglichen Näherung an den Konsens.“ (Seite 10)
Das Verfahren erscheint genial einfach und anwendbar: Alle können mit einer Lösung leben, mögliche Widerstände sind bereits im Vorfeld erkannt und berücksichtigt. Skeptisch macht mich jedoch der allumfassende Anspruch dieses Vorgehens, systemisches Konsensieren als die „größte Chance“ seit der Konstituierung der Demokratie (Seite 9) einzuführen.
Ob ein Vorschlag „gut“, sinnvoll oder hilfreich für z. B. die Weiterentwicklung eines Teams oder eines Unternehmens ist, kann nicht nur davon abhängen, ob er die größte Akzeptanz für seine Umsetzung findet. Gruppenentscheidungen müssen nicht immer intelligente Entscheidungen sein. („Gemeinsam sind wir blöd“: Fritz B. Simon) Auch wenn eine Lösung für die Entscheidungsgruppe am ehesten akzeptabel erscheint, wird es „Verlierer“ geben, die weiterhin davon ausgehen, dass „ihre Lösung“ am besten, sinnvollsten oder hilfreichsten ist.
Systemisches Konsensieren ersetzt nicht ausführliche und gemeinsame Reflektionen über Vor- und Nachteile einzelner Vorschläge und das Bemühen, die in der Diskussion vorgebrachten Argumente und Bedenken der jeweils anderen zu verstehen und im Hinblick auf deren Erklärungs- und Bewertungsmuster nachzuvollziehen. Es gibt nie die eine richtige Lösung: Unterschiedliche Erfahrungen, Kompetenzen und Bewertungsmuster lassen einzelne Vorschläge oder Ideen „besser“ als andere erscheinen. Um in einem systemischen Sinne zu tragbaren Veränderungen zu kommen, lernt die Gruppe die je unterschiedlichen Erklärungs- und Bewertungsmuster der einzelnen zu erkennen, wertzuschätzen und zu nutzen.
In diesem Sinne kann systemisches Konsensieren sinnvoll eingesetzt werden: Das „Messen“ von Akzeptanz und Widerstand ermöglicht eine Auseinandersetzung über Bedenken und unterschiedliche Erklärungsmuster. Einschätzungen der anderen werden ernst- und aufgenommen und wenn es gut läuft, verstanden.
Eine Voraussetzung für den sinnvollen Einsatz der Methode ist, dass die Gruppe, das Team oder Gremium sich zu Beginn der Entscheidungsfindung auf eine gemeinsame Fragestellung verständigt. Die Fragestellung muss für alle Beteiligten eine Bedeutung haben, sie müssen beauftragt oder befugt sein, darüber tatsächlich eine Entscheidung zu treffen und sie sollten in einem vergleichbaren Umfang an der Umsetzung der zu findenden Lösung beteiligt sein. Dann kann es möglich sein, im Rahmen einer kooperativen Entscheidungsfindung unterschiedliche Vorstellungen auf ihre Wirksamkeit und Akzeptanz zu beurteilen, mögliche Umsetzungswiderstände zu ermitteln und zu einer gemeinsam getragenen Lösung zu kommen.
G. Paulus, S. Schrotta, E. Visotschnig: Systemisches Konsensieren – Der Schlüssel zum gemeinsamen Erfolg, 3. überarbeitete Auflage August 2013 (s.a. Institut für Systemisches Konsensieren)