Stefan Kühl, Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld, arbeitet auch praktisch als Organisationsberater an der Entwicklung von Organisationen. Dabei stellt er fest, dass die Abweichung von Regeln Normalität in Organisationen ist: Nur wenn ihre Mitglieder die Möglichkeit haben, innerhalb eines formalen Regelsystems funktionierende Wege zu schaffen und zu erproben, können Organisationen insgesamt funktionieren. In seinem Working Paper 7/2015 „Volkswagen ist überall – die alltägliche Normalität der Regelabweichung“ liefert er eindrucksvolle Beispiele aus der Industrie dafür, wie z.B. in der Flugzeugindustrie oder der Automobilindustrie erst durch „bewährte illegale Praxis“ eine sichere Produktion überhaupt möglich ist. Die Mächtigkeit informeller Regeln und Strukturen belegt er z.B. damit, dass der „Dienst nach Vorschrift“ eine der wirksamsten Arbeitskampfmaßnahmen darstellt.
In einem spannenden Vortrag während einer Fachtagung des Fachbereichs Sozialwesens der FH Münster im September stellte Professor Kühl einen hilfreichen Ansatz für eine umfassende und systemische Analyse von Organisationen dar: Dabei unterscheidet er drei Seiten, von denen eine Organisation beschrieben werden kann und die jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln zugänglich sind:
- Die formale Seite der Organisation stellt die festgelegten Bedingungen dar, unter denen Mitglieder einer Organisation in ihr arbeiten sollen und dürfen. Diese betreffen die Ziele der Organisation (Programme), wer mit wem wie kommuniziert (Kommunikationswege) und welche formalen Anforderungen an Qualifikation oder Kompetenzen der Mitglieder gestellt werden (Personal).
Diese formale Seite der Organisation findet sich in Qualitätsmanagementhandbüchern, Zielvereinbarungen oder Stellenbeschreibungen wieder. - Um Auftraggebern, Kunden und anderen Anspruchsgruppen nach außen hin zu vermitteln, dass die Organisation in der Lage ist, die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen, werden Programme, Kommunikationswege und Personal in einer vereinfachten, häufig geglätteten oder geschönten Version als „Schauseite der Organisation“ dargestellt.
- Da Organisationen wesentlich komplexer sind und das Zusammenwirken ihrer Mitglieder nur in Teilen steuerbar ist, gibt es auch eine informale Seite der Organisation: Diese wird verstanden als das „Netzwerk bewährter Trampelpfade“, die es den Organisationsmitgliedern erst ermöglichen, innerhalb des formalen Regelwerks der Organisation zufriedenstellend zusammenzuarbeiten.
Dieser Teil der Organisation ist den handelnden Mitgliedern meist nicht bewusst, obwohl sie sich an diese Regeln und Muster halten. Häufig merkt ein Mensch erst, dass es eine solche Regel gibt, wenn gegen sie verstoßen wird: Wenn es verpönt ist, in einer Organisation über Gehalt zu sprechen, schweigen die Kolleg/innen möglicherweise betreten, wenn die neue Mitarbeiterin sie danach fragt, was sie denn hier verdienen. Externe Beraterinnen und Berater bieten die Möglichkeit, z.B. durch Interviews in einer Organisation nach derartigen blinden Flecken, Tabus und informellen Regeln zu forschen. Manche Organisationen haben das Potenzial neuer Mitarbeitender als „Kulturanalytiker“ erkannt und führen nach 6 Wochen ein Gespräch, in dem danach gefragt wird, welche informellen Regeln aufgefallen sind. (Dann sind neue Mitarbeitende noch „fremd“ genug, dass ihnen Muster auffallen…)
Interessant wird es dann, wenn versucht wird, den Blick der Organisation auf einige dieser Regeln oder Tabus zu lenken: Dies kann erleichterndes Lachen, Stirnrunzeln oder betretenes Schweigen hervorrufen. Für Veränderungen in Organisationen ist zu berücksichtigen, welche dieser Muster veränderbar sind oder nicht. Nicht alles sollte aufgedeckt werden, es wird anerkannt, dass informelle Muster das „Schmiermittel“ in jeder Organisation sind. Besprochen werden sollte jedoch, wie einzelne dieser Regeln die Entwicklung oder notwendige Veränderungen einer Organisation unterstützen oder behindern, um Einflussmöglichkeiten für wirkliche Veränderungen zu gewinnen.
Bei seinem Vortrag in der Fachhochschule Münster stellt Stefan Kühl eine hilfreiche Strukturmatrix zur Veränderung von Organisationen vor, die die Programme, Kommunikationswege und das Personal einer Organisation danach analysieren lässt, wie sie sich auf der Schauseite, der formalen Seite und der informalen Seite darstellen.
Je nach Veränderungsvorhaben ist es damit möglich, einzelne Aspekte der Organisation unter die Lupe zu nehmen und zu untersuchen, wie sich Veränderungen z.B. bei neu zu gestaltenden Kommunikationswegen auf die einzelnen Strukturaspekte auswirken.
Wenn z.B. verabredet wird, Teammeetings in Zukunft kürzer zu gestalten und wesentliche Informationen vorher per E-Mail zu verschicken (formale Seite der Kommunikationswege), könnte gemeinsam reflektiert werden:
- Welche Veränderungen könnte das auf die informalen Kommunikationswege mit sich bringen? Welche Möglichkeiten bleiben (noch) für kurze Plaudereien über Befindlichkeiten oder den Stand des Projektes XY, die bisher für das gegenseitige Verständnis und „gute Gefühl“ miteinander wichtig waren?
- Welche formalen Anforderungen erwachsen daraus für Kompetenz oder Qualifikationen der Mitarbeitenden (Personal)?
- Welcher „Typus“ Mitarbeiter/in (informale Seite / Personal) wird mit dieser neuen Kommunikationsform besser zurecht kommen? Welcher weniger gut?
- …
Eine prägnante und gut lesbare Darstellung der drei Seiten einer Organisation, zum Einsatz der Strukturmatrix und hilfreiche Überlegungen zum Umgang mit „blinden Flecken“ und Tabus in Veränderungsprozessen liefet das Ende 2015 erscheinenden Buch „Organisationen gestalten. Eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung“ von Stefan Kühl.
Johannes Massolle
Links zum Artikel:
- Dr. Stefan Kühl: Universität Bielefeld für Soziologie (Informationen über Publikationen und aktuelle Forschungen)