Ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervision
Die Beratung und Betreuung von Flüchtlingen beschäftigt viele der Organisationen, mit denen wir in Beratungskontakten stehen. Pädagogische und andere Fachkräfte, die unsere Fortbildungen zu ressourcenorientierter Beratung oder Moderation besuchen, fragen danach, wie sie systemische Ansätze in ihre Beratung integrieren können. Einen hilfreichen „Reiseführer für Beratung“ bieten Arist von Schlippe, Mohammed El Hachimi und Gesa Jürgens in ihrem bereits 2013 erschienenen Werk „Multikulturelle systemische Praxis – ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervision“. Entstanden ist das Buch aus der Reflexion der vielfältigen Praxiserfahrung der Autorin und der Autoren im Feld der systemischen Beratung und Ausbildung von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen.
„Das Problem einer multikulturellen Gesellschaft liegt nicht so sehr in der Einwanderung, als vielmehr in den Beschreibungen, die davon erzeugt werden.“ Diese Aussage erscheint in der gegenwärtigen „postfaktischen“ Auseinandersetzung um Flucht und Einwanderung besonders herausfordernd: Unterstützt durch Skandalisierungen in Medien und – nicht nur rechtspopulistische – Politiker, entstehen Beschreibungen und werden Stereotype und Vorurteile unterstützt, die ein Verständnis des „Anderen“ erschweren. (Ausdruck dieser verzerrten Wahrnehmung ist z. B., dass Deutsche den Anteil der muslimischen Bevölkerung erheblich zu hoch einschätzen: In einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts Ipsos schätzen die Befragten den Anteil der Muslime an der Bevölkerung auf 21 %, tatsächlich beträgt ihr Anteil 5 %. Spiegel online, 14.12.2016)
Aufgabe systemischer Beratung ist, interessiert und wertschätzend mit dem Ratsuchenden die Beschreibung seiner Wirklichkeit zu erkunden, um mit ihm neue Beschreibungen zu ermöglichen und zu bisher nicht gesehenen Handlungsalternativen einzuladen. Gerade in Beratungssituationen mit Menschen anderer Kulturen richtet sich diese Aufgabe auch an die Beratenden selbst: Das Buch lädt durch Fragen, Geschichten und Beispiele dazu ein, das eigene Verständnis zu Fremdheit, der eigenen und anderen Kulturen zu erforschen und überprüfen. „So ist etwa denkbar, dass eine Person, die Stimmen hört, in der einen Kultur als geisteskrank und behandlungsbedürftig bezeichnet, in der anderen als besonders begnadet verehrt wird.“ (S. 29). Beratung kann dann gelingen, wenn Beratende ihre eigene kulturelle Prägung reflektieren und systemische Fragen entwickeln, um die jeweils andere Kultur der Ratsuchenden kennen zu lernen und mit ihnen zu ergründen. Dieses Kennenlernen oder „Joining“ in der ersten Phase der Beratung schafft die Grundlagen dafür, einen unterstützenden Beratungskontakt aufzubauen und dem Ratsuchenden ein Gefühl des Verständnisses zu vermitteln.
Systemische Beratung arbeitet sehr viel mit Sprache. „Da Sprache jeweils essentieller Bestandteil einer Kultur ist, sind das Erleben und die Erfahrung von Menschen, ihr Bewusstsein dessen, was ihre Wirklichkeit ist, also von dem jeweiligen kulturellen Hintergrund geprägt.“ (S. 53) Mit netten Beispielen schildern die Autorin und der Autor, welche Missverständnisse aus einem unterschiedlichen Verständnis von Sprache und der Bedeutung einzelner Wörter entstehen können. („In der türkischen Sprache gibt es interessanterweise kein Wort für das in unserer Kultur so wichtige Wort ‚Termin‘.“ S. 55) Die Autoren warnen davor, zu schnell zu glauben, die jeweils anderen verstanden zu haben oder zu wissen, was diese meinen. Mit konstruktiver Neugier sollte sich darum bemüht werden, gemeinsame Beschreibungen der Situation zu entwickeln und die Bedeutung von Begriffen und Beschreibungen immer wieder zu erfragen:
- „Sei sensibel im Aufnehmen und Verwenden der Metaphorik des Klientensystems!
- Frage immer wieder nach, welchen Sinn Begriffe in der jeweiligen Kultur haben.
- Rege an, dass wichtige Aussagen (etwa emotionale Sätze) in der Muttersprache wiederholt werden!
- Sprich langsam, benutze Bilder, Symbole, Zeichnungen und andere Hilfsmittel!
- Sprich die Klienten als Experten ihrer eigenen Kultur an!“ (S.66/67)
Gerade aus der besonderen Bedeutung der Sprache leiten die Autoren die Anforderung ab, dass Dolmetscher und Sprachmittler „mehr als eine Telefonleitung“ sind: Sie sollten mehr leisten, als nur eine sprachliche wörtliche Übertragung und ein grundlegendes Verständnis der Beratungsarbeit mitbringen.
Den Hauptteil des Buches, den eigentlichen „Reiseführer“ bildet die Beschreibung des Beratungsprozesses. Dabei konstruieren die Autoren einen fiktiven Dialog mit einem persischen Sufi und Mystiker des 12. Jahrhunderts und folgen seinem Weg durch „sieben Täler“ im Ringen um menschliche Erkenntnis. Im „Tal des Suchens“ wird ausführlich auf das Herstellen von Joining und die Gestaltung des ersten Beratungskontaktes eingegangen. Berücksichtigt wird dabei das jeweilige unterschiedliche oder nicht vorhandene Verständnis in der Kultur der Ratsuchenden von Beratungssituationen und daraus entstehender Erwartungen an einen Berater. Zum „Tal der Erkenntnis“ wird die mögliche Gestaltung eines ersten Beratungsgesprächs mit verschiedenen Phasen und der methodischen Aufbaueines möglichen Erstgesprächs beschrieben. Insbesondere in diesem Kapitel wird der Einsatz unterschiedlicher methodischer Hilfsmittel (Skulpturarbeit, Genogrammarbeit, zirkuläres Fragen) mit Beispielen aus der reichhaltigen Beratungspraxis reflektiert und zu einer Vielzahl von hilfreichen Fragen angeregt. Im „Tal der Selbstgenügsamkeit“ werden „multikulturelle Schätze“ wie Rituale, Märchen und Geschichten, Weisheiten und Sprüche anderer Völker zur Bereicherung der Beratungsarbeit genutzt, um Ressourcen der Ratsuchenden zu erschließen und vor allem in familiären Beratungssettings unterschiedliche Sichtweisen auf die Situation der Ratsuchenden und ihre Veränderungsmöglichkeiten zu erschließen.
Das Buch erscheint mir als ein sehr hilfreicher Ideen- und Ratgeber nicht nur für systemisch vorgebildete Menschen in der Arbeit mit multikulturellen Beratungssettings. Es trägt zur nützlichen Verstörung und Reflexion des eigenen Verständnisses bei und unterstützt Beraterinnen und Berater dabei, in respektvoller Neugier auf den komplexen Erfahrungshintergrund der Ratsuchenden einzugehen. Die ausführliche Beschreibung des methodischen Vorgehens und eine Vielzahl von Anregungen für hilfreiche Fragen und Methoden bieten einen praxisorientierten „Reiseführer“ für die Beratung.
(Einen Vorgeschmack auf diese Arbeit bietet der bereits 2001 erschienene Aufsatz „Systemische Therapie und Supervision in multikulturellen Kontexten“ von Mohammed El Hachimi und Arist von Schlippe, der in komprimierter Form den Weg durch die „Sieben Täler“ darstellt: Download als PDF aus der Zeitschrift „System Familie“)
Multikulturelle systemische Praxis –Ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervision:Arist von Schlippe, Mohammed El Hachimi, Gesa Jürgens (Carl Auer Verlag, 4., erweiterte Auflage, 2013, mit Vorworten von Cem Özdemir und Klaus J. Bade) (Bestelladresse: Carl Auer Verlag)
Johannes Massolle